Betreutes Wohnen für Bezügerinnen und Bezüger von EL zur AHV

Bulletin 4/23, Dezember 2023

Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG)

Der Bundesrat will die Autonomie älterer Menschen und das Wohnen im eigenen Zuhause fördern. Rund ein Drittel der Personen, die in einem Alters- und Pflegeheim leben, benötigen weniger als eine Stunde Pflege pro Tag. Der Bundesrat schlägt für Bezügerinnen und Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) zur Altersrente Betreuungsleistungen vor, die im Rahmen der Krankheits- und Behinderungskosten vergütet werden sollen. Der Anteil der Alleinlebenden der über 65-Jährigen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

Absicht/Ziele der Änderung des ELG
Ältere Menschen mit geringem Pflegebedarf sollen im eigenen Haushalt oder in Wohngemeinschaften (ohne Altersheime und Spitäler) zu Hause wohnen bleiben können. Damit soll der Eintritt ins Alters- oder Pflegeheim zeitlich verzögert oder vermieden werden.

Anspruchsberechtigte
Beiträge für das betreute Wohnen sollen nur Bezü­gerinnen und Bezüger von Ergänzungsleistungen zur Altersrente erhalten. Diese erhielten Leistungen im Rahmen der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten.

Vorgesehene Leistungen
Im Rahmen der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten durch die Ergänzungsleistungen (EL) sollen nach Vorschlag des Bundesrates folgende Leistungen berücksichtigt werden:

  • Notrufsystem (Uhr)
  • Haushalthilfe (wird von allen Kantonen, die an der ­Befragung des Bundesamtes für Sozialversicherungen teilgenommenen haben, bereits heute vergütet)
  • Mahlzeitendienst am Mittag (darunter können Mahlzeitenlieferungen nach Hause oder auch Mittagstischangebote für ältere Personen fallen)
  • Fahr- und Begleitdienste (zum Beispiel SRK-Fahrer)
  • Mietzinszuschlag für altersgerechte Wohnung
  • Anpassung der Wohnung inkl. Sturzprävention bzw. Hindernisse entfernen wie Türschwellen etc.

Mit dieser Vorlage sollen auch zwei EL-spezifische Situa­tio­nen verbessert werden. Einerseits sollen EL-Bezü­gerinnen und -Bezüger mit einem Assistenzbeitrag Anspruch auf einen Zuschlag für die Miete eines zusätzlichen Zimmers für eine Nachtassistenz erhalten. Andererseits soll der Zuschlag für die Miete einer rollstuhlgängigen Wohnung anders auf die Haushaltsmitglieder aufgeteilt werden.

Betreuungsleistungen
Für die einzelnen Kosten können die Kantone Höchstbeträge festlegen. Der Mindestbeitrag (zulasten der Kantone) von 13 400 Franken pro Person und Jahr darf nicht unterschritten werden (entspricht 1 117 Franken pro Monat pro Person). Diese Leistungen würden unabhängig vom Anspruch auf Hilflosenentschädigung entrichtet.

Auswirkungen für Kantone
Die Kosten für Ergänzungsleistungen werden zu 5/8 vom Bund und zu 3/8 von den Kantonen getragen. Die Vergütung der EL-Krankheits- und Behinderungskosten soll neu vollumfänglich zulasten der Kantone gehen. Für 2030 schätzt man die Kosten für die neuen Betreuungsleistungen zulasten der Kantone auf mindestens 227 bis maximal 476 Millionen Franken. Im Gegenzug sollen die Einsparungen der Kantone 2030 zirka 296 Millionen Franken betragen. Diese Einsparungen werden ermöglicht durch die verzögerten Heimeintritte. Aus Sicht des Bundesrates ist es hauptsächlich Aufgabe der Kantone, die Inanspruchnahme des betreuten Wohnens zu fördern, da auch die Finanzierung der Heimkosten vorwiegend in kantonaler Zuständigkeit liegt und eine Lösung mit verzögerten oder verhinderten Heim­eintritten insbesondere die Kantone finanziell entlasten würde.

Fazit
Die Vorlage ist komplex und die Kostenfolgen sind schwer abschätzbar. Die Spanne, in welcher sich die vom Bundesrat errechneten Zahlen bewegen, ist sehr gross. Die Absicht zielt aber in die richtige Richtung. ­Die vorgeschlagene Gesetzesanpassung fördert die Chancengleichheit für Einpersonenhaushalte. Massgebend für eine definitive Beurteilung werden jedoch die Ausführungsbestimmungen zum ELG sein.

Stellungnahme von Pro Single Schweiz
Menschen ohne oder mit geringem Vermögen und kleiner Rente sehen sich heute aus finanziellen Gründen zu einem unnötig frühen Eintritt in ein Altersheim gezwungen.
Wer es sich leisten kann, finanziert Haushalthilfe, Mahlzeitendienst, Fahrdienste und andere Dienstleistungen wie z.B. Einkaufshilfen aus der eigenen Tasche, um die gewohnte Lebenssituation so lange wie möglich beizubehalten. Der Bericht «Die wirtschaftliche Situation der Alleinlebenden in der Schweiz» des Bundesamtes für Sozialversicherungen vom März 2023 hebt hervor, dass Einpersonenhaushalte im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, und insbesondere im Vergleich zu Paaren (mit oder ohne Kinder), ein eher moderates Niveau an Nettovermögen aufweisen. Im Vergleich verfügen Paarhaushalte über ein drei- bis fünfmal höheres Median-Nettovermögen. Zudem können sich Paare gegenseitig im täglichen Leben unterstützen und somit den Heimeintritt hinauszögern. Die vorgeschlagene Gesetzesanpassung fördert die Chancengleichheit für Einpersonenhaushalte.
Da sich die demografische Alterung in den nächsten zwei Jahrzehnten weiter beschleunigen wird, ist eine Verschiebung der Betreuung vom institutionellen in den ambulanten Bereich sowohl aus sozialen wie aus finanziellen Gründen sinnvoll.
Entsprechend befürworten wir die vorgeschlagene Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung.

SSR-Tagung 19.10.23
Der Schweizerische Seniorenrat führte seine Herbst­tagung zum Thema «Selbständig altern» durch und befasste sich ebenfalls mit der Vernehmlassung «Anerkennung des betreuten Wohnens für Bezügerinnen und Bezüger von EL zur AHV». In diesem Zusammenhang hielt Dr. ­Albert Wettstein, ehemaliger Chefarzt des Stadtärzt­lichen Dienstes Zürich und Privatdozent für geriatrische Neurologie der UZH, ein Referat zum Thema
«Selbst­bestimmt zu Hause alt werden»,
nachfolgend zusammengefasst von I. Fleischmann:

Die Frage ist, was können wir selbst tun und was muss der Staat tun?
Eine Umfrage bei 1 173 Betagten (80 +/– 6 Jahre) hat ergeben:

  • 95% wünschen sich eine gute Gesundheit bis kurz vor ihrem Tod
  • 92% Selbstbestimmung
  • 90% Freunde, Familie
  • 83% möchten sich nicht einsam fühlen
  • 29% möchten sehr lange leben

Fazit der Befragung: Geld allein macht nicht glücklich. An dritter Stelle der Rangordnung stehen bereits gute Beziehungen und soziale Unterstützung. Sie sind wichtig und haben gemäss Dr. Wettstein nachweislich ein längeres Leben, weniger Demenz, weniger Beschwerden (auch nach Operationen) und eine höhere Zufriedenheit zur Folge.
Bemerkenswert ist, dass sich die 25–34-Jährigen einsamer fühlen als Jungrentner, die sich Zeit nehmen können, um ihre Beziehungen zu pflegen. Was nicht gepflegt wird, verkümmert.
Also liebe Leserin, lieber Leser: nehmen Sie sich Zeit, neue Beziehungen zu knüpfen oder langjährige Freundschaften zu pflegen. Denn der Spruch, dass Blut dicker ist als Wasser, ist nur ein Mythos. Kontakte zu guten Freunden beinhalten insgesamt einen doppelt so starken Schutzfaktor als die sozialen Kontakte zur Familie! Befriedigende Beziehungen sind für Frauen wichtiger als für Männer. 59% der Frauen leben im Alter (über 65) allein, bei den Männern sind es 23%.
Wenn Sie jemanden im Altersheim besuchen, erzielen Sie laut Dr. Wettstein weit mehr Wirkung, wenn Sie Ihren Besuch ankündigen, ganz im Sinn von «Vorfreude ist die schönste Freude».
Selbstbestimmt leben heisst nicht, auf Hilfe zu verzichten, betont Dr. Wettstein. Sie bestimmen aber, mit wem, wie intensiv und wofür Sie Hilfe annehmen wollen. Nehmen Sie dabei auf die Autonomie der anderen Rücksicht. Helfende sollten nicht über Gebühr belastet werden. Haushalthilfe, Spitex, Nachbarschaftshilfe, Freunde, Familie sind mögliche Hilfsquellen.
Mehr oder weniger ausgeprägte chronische Gesundheitsstörungen haben alle. Niemand ist zu 100% gesund und schon gar nicht vor Leid gefeit. Verfallen Sie nicht in einen Jugendlichkeitswahn, mahnt Dr. Wettstein. Verdrängen Sie nicht, dass auch Ihnen irgendwann das letzte Stündlein schlägt. Längerfristig scheitert jede Medizin, deswegen sind Selbstermächtigung (Empowerment) und Selbstmanagement wichtig.
Gesundheitsförderung heisst hier, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen = Empowerment. Medizinische Entscheide sollten zusammen mit dem Arzt gefällt werden (Shared-decision-making) und nicht über Ihren Kopf hinweg.
Bei den chronischen Gesundheitsstörungen erwähnt Dr. Wettstein drei Bürden: Leid, eingeschränkte Selbstständigkeit/Selbstbestimmung (man beachte die Nuance zwischen beiden) und soziale Einschränkungen.
Bei auftretenden Schwierigkeiten gilt es, zu verstehen, was (mit einem) passiert, die Zuversicht, es bewältigen zu können, und trotz allem einen Sinn darin zu sehen; es hilft, Beziehungen zu pflegen, vernünftige und flexible Bewältigungsstrategien zu suchen. Insbesondere wichtig ist, Beratung und Hilfe von aussen zu akzeptieren. Dr. Wettstein rät auszuwählen, was emotional wichtig und sinnstiftend für Sie ist, Beeinträchtigungen zu kompensieren, indem Sie Hilfen und Tricks nutzen (Gehstock, Brille, Hörgerät) und die Erhaltung von Fähigkeiten durch Mehranstrengung, Fleiss und Übung (Gedächtnistraining, Krafttraining, Altersturnen) unterstützen. Lernen Sie, im Krankheitsfall mit Krisen und Symptomen umzugehen, um zu einer gewissen Normalität zu finden. Passen Sie diverse Therapieverordnungen im Alltag ein und vermeiden Sie soziale Isolation.
Bei der ganzen Empowerment-Ideologie: Verabsolutieren Sie nichts! Wem es nicht gut geht, der ist nicht einfach selber schuld, Kranke sollten sich nicht selber helfen müssen. Offerieren Sie selber Hilfestellung, auch wenn es von einem Kranken nicht offen verlangt wird. Menschenwürde heisst für Dr. Wettstein nicht nur Anerkennen der Autonomie, sondern auch Anerkennung einer Pflicht zur Fürsorge für nicht mehr Autonome, Kranke, Schwache, Hilfsbe­dürftige.


Wichtig: Verfassen Sie frühzeitig eine Patientenverfügung und eventuell einen Vorsorgeauftrag (wenn Sie jemanden einsetzen können, dem Sie vertrauen). Sonst sind Sie mit einem Beistand, den die KESB beauftragt, besser bedient.

 

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Kommentar

06.01.2024

R.Wyss

Der Bericht ist sehr interessant, alles in allem gut erklärt. Was aber, wenn jemand keinen Mut hat auf andere zuzugehen?
Oder wenn jemand selber und aus guten Gründen "gehen" möchte? Geistig voll da, will aber nicht 80 oder 90 werden, da es an allen Ecken und Enden finanziell aussichtslos ist,
sich die restlichen Jahre eine "normale" Lebensqualität nicht mehr leisten kann?
Dies die Gegenantworten auf den oben aufgeführten Bericht.

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