Der Zivilstand als Machtinstrument – sozialphilosophische Betrachtungen zum Zivilstand und zur Gesellschaftsorganisation

Bulletin 2/25 Juni 2025, Referentin: Claudia Wirz *), anlässlich der Jubiläumsveranstaltung von Pro Single Schweiz, Zusammenfassung: Daniel Billeter

Claudia Wirz, Journalistin und Publizistin, beleuchtete in ihrem Referat anlässlich der Jubiläums-Generalversammlung von Pro Single Schweiz ausgewählte Aspekte der Familien- und Zivilstandspolitik. Wesen, Absicht und Wirkung wurden in einem grösseren Zusammenhang betrachtet. Zwar erscheint der Zivilstand im Titel, inhaltlich geht es dabei aber unausweichlich um Familienpolitik. Nachfolgend eine gekürzte Fassung des Referats – der vollständige Text kann bei Claudia Wirz bezogen werden: mail@claudiawirz.ch.

Laut Claudia Wirz haben Ehe und Familie in unserem Kulturkreis immer noch eine riesige Bedeutung und ­einen extrem engen Bezug zueinander. Wer Ehe und Familie reguliert, ordnet die ganze Gesellschaft und verweist so implizit auch die Unverheirateten und Alleinstehenden auf ihre Plätze. Familie ist und war nie privat. Familie ist gemäss Karl Kraus [österreichischer Sprach- und Kulturkritiker, Anm. der Redaktion] ein Eingriff ins Privatleben. Für Familienpolitik gilt das erst recht. Alleinstehende werden in den familienpolitischen Gesetzen und Verordnungen zwar nicht erwähnt, sind aber als Abwesende massiv betroffen. 

Die abendländische Definition von Familie und Ehe ist keineswegs naturgegeben. Unser Familienkonzept ist kulturhistorisch zuerst ein religiöses, dann ein politisches Konstrukt. Es ist auch ein sittliches Ordnungsprinzip, eine Konvention zur sozialen Kontrolle, der man sich zu fügen hat. Familie ist eine Einschränkung der individuellen Freiheit, eine soziale Einbindung. Wer sich nicht anpasst, muss mit Nachteilen rechnen.

Die familienpolitische Macht des Gesetzes über private Lebensentscheide begann schon im alten Rom. Kaiser Augustus erliess eine Ehepflicht für Männer unter 60 und Frauen unter 50 Jahren einschliesslich einer Pflicht zur Wiederverheiratung für Geschiedene und Verwitwete. Für Familien mit mindestens drei Kindern gab es verschiedene Privilegien. Unverheiratete verloren ihren Anspruch auf Erbschaften völlig, kinderlose Ehepaare zur Hälfte. Die christlichen Kaiser nahmen später Abstand von der systematischen Benachteiligung Unverheirateter, denn selbstgewählter Zölibat und Eremitentum hatten im frühen Christentum einen hohen spirituellen Stellenwert und genossen gesellschaftliches Ansehen. Angesichts des heutigen Sozial-, Familien-, Steuer- und Erbrechts, der Vergabekriterien für subventionierte Wohnungen und der Taxierung von Singles als Übriggebliebene durch sogenannte Experten, fragt sich Claudia Wirz, ob Augustus auferstanden sei oder zumindest noch herumspukt. Der Geist seiner Ehe- und Familienpolitik und seiner sittlichen Konventionen lebt jedenfalls weiter.

Dabei müsste die Aufklärung den Stellenwert des selbstbestimmten Individuums gegenüber dem Kollektiv gestärkt haben. Die aufgeklärte Demokratie sollte das Individuum ins Zentrum stellen, nicht das Kollektiv. Einem wahrhaft liberalen und demokratischen Staat müsste die Lebensform seiner Einwohner steuer- und subventionstechnisch egal sein. Er sollte keine Umverteilung zwischen den Lebensformen vornehmen. Dies nach dem liberalen Leitspruch, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll. Wahren Liberalismus gibt es aber nicht im realen Leben, auch nicht im angeblich liberalen Bundesstaat Schweiz, der seit seiner Gründung auf korporatistische Umverteilung ausgerichtet ist. Er wird von Spezialinteressen von Kollektiven, heute Lobbys genannt, gelenkt. Familien haben heute im Gegensatz zu Singles eine sehr starke Lobby, so stark wie diejenige der Bauern, deren Methoden sie übernommen hat.

Der Grund, warum die Familien eine bessere Lobby haben als die Singles, obwohl es viele Alleinstehende gibt, ist das Geld. Hinter den Familien steht wie hinter den Bauern eine gewaltige Industrie. Nicht so hinter den Singles, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen, eigenverantwortlich leben und sich nicht betreuen lassen. Zynischerweise werden sie dafür vom Staat bestraft. Für die Betreuungsindustrie sind Singles un­interessant. Mit Familien und Kindern aber lässt sich sehr viel Geld machen.

Dass dem so ist, hat der Nationalrat soeben wieder bewiesen. Familien, die ihre Kinder extern betreuen lassen, sollen noch stärker finanziell unterstützt werden, egal ob die Eltern arbeiten oder nicht und egal ob sie reich oder arm sind. Finanziert wird dieser Geldsegen durch alle, einschliesslich Singles, Kinderlose und Familien, die ihre Kinder zuhause betreuen. Damit werden auch die verschiedenen Familienformen gegeneinander ausgespielt. Ein weiterer Beweis, dass Karl Kraus recht hatte und die Schweiz kein liberales Land ist.

Wer moniert, die Gelder würden nach dem Giesskannenprinzip auch an Reiche verteilt, hat den wahren Sinn nicht verstanden. Es geht nur vordergründig um die Familien. In Wahrheit geht das Geld an die staatsnahe Betreuungsindustrie und entlastet die Arbeitgeber, die sich die Kinderbetreuung ihrer Angestellten durch die Allgemeinheit finanzieren lassen. Zusätzlich widerspricht es dem Föderalismus, denn Familienpolitik ist gemäss Verfassung Sache der Kantone. Auch die geplante Elternzeit dient einerseits der Subventionierung der Arbeitgeber und andererseits der Freizeitoptimierung junger Eltern. Sie wird weder eine höhere Erwerbsquote noch höhere Steuereinnahmen bringen.

Besorgniserregend ist auch die Idee eines Familienstimmrechts, bei dem die Eltern das Stimmrecht ihrer minderjährigen Kinder treuhänderisch ausüben. Damit hätten Eltern ein höheres Stimmgewicht als alle anderen, deren demokratische Mitbestimmung beeinträchtigt würde.

Lebensform und Zivilstand sind für jene, die an die Freiheit des Individuums glauben, Privatsache. Der Staat hat keinen Zivilstand besonders zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Die «Ehe für alle» ist nur ein anderes Wort für «Privilegien für alle mit Ausnahme der Unverheirateten». Sie ist keineswegs Ausdruck eines modernen, toleranten und aufgeschlossenen Denkens, sondern die Verlängerung des alten Zopfes von ungerechten Privilegien.

Es stellt sich die Frage, warum der Staat Familie und Ehe fiskalisch und juristisch so stark bevorzugt. Zusammenfassend lässt sich sagen, er tut es aus Staatsraison, nicht aus Liebe zu den Familien. Der wachsende Staatsapparat, der Arbeitsmarkt und die immer monströseren Sozialwerke, die wie ein Schneeballsystem funktionieren, brauchen mehr Personal. Darum wird immer vorgerechnet, wie viele Aktive für wie viele Rentner zuständig sein werden.

Wer so denkt, sieht Singles und Kinderlose als Egoisten, die nichts zur Reproduktion und zur Stabilisierung des Schneeballsystems beisteuern und stellt das Interesse des Kollektivs bzw. die Staatsraison oder die Sozialwerke über das Ideal der Freiheit. Der überschiessende Sozialstaat führt also, wie es Friedrich A. von Hayek [österreichischer Ökonom, Anm. der Redaktion] vorausgesehen hat, in die Knechtschaft.

Man sollte sich das nicht gefallen lassen. Dass man heute als Single ein gutes, unabhängiges Leben führen kann, ist eine gute Nachricht, denn diese Lebensform ist nur in einer modernen Wohlstandsgesellschaft möglich. In früheren Zeiten gab es zwar auch Ledige. Sie waren aber nicht selbstbestimmte Singles, sondern lebten oft abhängig von Verwandten im grösseren Familienverband. Dass das Single-Leben heute möglich und verbreitet ist, ist ein Zeichen von Wohlstand und Selbstbestimmung. Darauf dürfen und müssen wir stolz sein.

Claudia Wirz freut sich, dass es den engagierten Verein Pro Single Schweiz gibt. Für die Zukunft ruft sie Pro Single Schweiz dazu auf, in der Öffentlichkeit das Gespür für die vielfältigen Aspekte weiter zu schärfen und sich mit strategischen Partnern zu verbünden, also den Kinderlosen, den Konkubinatspaaren und den sogenannt traditionellen Familien, um so den unsäglichen familienpolitischen Gottesdienst zu stören. Es ist traurig, aber wahr: Nur wer jammert, hat in der Politik Erfolg. Das ist die wichtigste Lektion, die man von den Schweizer Bauern lernen kann.

*) Claudia Wirz hat an der Uni­versität Zürich Sinologie studiert und ist heute freie Journalistin und Buchautorin. Von 1994 bis 2024 war sie für die NZZ tätig. Ihre gesammelten NZZ-Kolumnen sind 2024 unter dem Titel «Weder lechts noch rinks» bei NZZ Libro erschienen.

 

zurück

Kommentar

email address:
Homepage:
URL:
Comment:

Name:

E-Mail (Pflichtfeld, nicht öffentlich):

Kommentar :

Prüfziffer:
16 minus 5  =  Bitte Ergebnis eintragen