Kinderabhängige AHV-Renten: Völlig daneben!

Bulletin 3/23, September 2023, von Andreas Zeller, lic.oec. HSG

Vor geraumer Zeit haben in der Sonntagspresse verschiedene Ökonomen eine kinderabhängige AHV-Rente ge­fordert. Getreu dem Motto: Je mehr Kinder jemand grosszieht, desto höher soll die Altersrente ausfallen. Begründet wird diese Forderung mit der Tatsache, dass die Geburtenziffer im Vorjahr auf einen historischen Tiefstwert gefallen sei. Diese Entwicklung führe zu einer weiteren Verschärfung der Finanzierungsengpässe innerhalb der AHV. Gegensteuer sei gefragt. So viel zur Ausgangslage.

Geburtenziffer auf tiefem Niveau konstant
Die Geburtenziffer (also die durchschnittliche Anzahl Kinder je Frau im gebärfähigen Alter) hat in der Tat im Vorjahr mit einem Wert von 1,39 einen Tiefststand erreicht. Nur: In der Zeitspanne zwischen «2011 und 2021» lag der entsprechende Wert konstant um 1,50, während er sich zu Beginn des Jahrtausends über viele Jahre stets unterhalb dieser Kennziffer befand. Der tiefe Wert im Vorjahr war demzufolge ein Ausreisser nach unten, der teilweise sicher auch der Verunsicherung durch Pandemie und Krieg geschuldet war. Ähnlich wie beim Renditevergleich eines Vermögensdepots tut man auch bei Aussagen zur Entwicklung der Geburtenziffer gut daran, nicht ein einzelnes Jahr, sondern vielmehr eine längere Zeitspanne als Grundlage heranzuziehen. Alles andere ist wenig seriös. Und diesbezüglich ist die Geburtenziffer relativ konstant auf tiefem Niveau. Panik von dieser Seite ist also nicht angesagt. Kommt hinzu: Zum Erhalt der finanziellen Stabilität der AHV braucht es in erster Linie höhere Beiträge, ein höheres Rentenalter oder eine Kombination dieser beiden Massnahmen. Der wahre Kostentreiber ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer älter werden. So gesehen, sind wir bei der AHV gegenwärtig das «Opfer» der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg (Stichwort: Babyboomer). Daraus folgt: Für eine umlagefinanzierte Altersvorsorge ist langfristig eine konstante und nicht dauernd schwankende Geburtenziffer von Vorteil.

Umverteilung einmalig – auch dank kinderlosen Personen
Innerhalb der Diskussion um kinderabhängige AHV-Renten ist auch der Wirtschaftswissenschafter Bernd Raffelhüschen (Universität Freiburg) zu Wort gekommen. Dabei wird er mit folgender Aussage zitiert: «Wer sich gegen Kinder entscheidet, wird für das Rentensystem zu einem Trittbrettfahrer. Er profitiert von Leistungen, zu denen er kaum etwas beigetragen hat.» Dieses Urteil befremdet – um nicht zu sagen schockiert. Man muss davon ausgehen, dass dieser deutsche Professor die Feinheiten unseres AHV-Finanzierungssystems nicht oder zumindest nur oberflächlich kennt. Tatsache ist und bleibt: Die einkommensbezogene Umverteilung in der AHV ist weltweit einmalig. Weil keine Deckelung der beitragspflichtigen Lohnsumme stattfindet, werden jedes Jahr über 22 Milliarden Franken von den Gutverdienenden zu den Ärmeren umverteilt. Und zu diesen Topverdienenden gehören auch viele kinderlose Beitragspflichtige. Sie bezahlen während ihrer Erwerbszeit oft weit über eine Million Franken an AHV-Beiträgen und gehören deshalb zu einer von zehn Personen, die ihre Altersrente selbst finanzieren. Diese kinderlosen Gutverdienenden als Trittbrettfahrer der AHV zu bezeichnen, ist schon eine starke Wortwahl – wenn nicht gar ein Affront.
Kinderlose berappen auch Kinder- und Waisenrenten
Personen ohne Kinder werden nie Waisenrenten und auch keine Kinderrenten der AHV und der IV beziehen. Insgesamt sind das rund 130 000 Renten der AHV und der IV mit einem Leistungsvolumen von knapp einer Milliarde Franken jährlich. Auch haben kinderlose Männer nach heutigem Recht nie und kinderlose Frauen nur sehr eingeschränkt Ansprüche auf Witwer- bzw. Witwenrenten. Und trotzdem zahlen sie (aus gelebter Solidarität) die gleichen Beitragssätze wie Personen mit Kindern. Wären die AHV und die IV private Versicherungen, müssten die entsprechenden Beitragssätze von kinderlosen Personen für die beiden Versicherungen tiefer sein.

AHV belohnt Erziehungsarbeit grosszügig
Seit der 10. AHV-Revision im 1997 werden Beitrags­pflichtigen, die Kinder unter 16. Jahren betreuen, bei der späteren Rentenfestsetzung fiktive Ersatzeinkommen – sogenannte Erziehungsgutschriften – angerechnet. Diese betragen heute jährlich gut 44 000 Franken, welche bei Ehepaaren je hälftig zum Tragen kommen. An einem Beispiel verdeutlicht heisst das: Eine Person mit einem Jahreseinkommen von rund 88 000 Franken und zwei Kindern kann vom Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes bis zum Jahr, in welchem das zweite Kind 16 Jahre alt wird, das Arbeitspensum um 50 Prozent reduzieren und erzielt trotzdem das für die Maximalrente erforderliche Mindest-Jahreseinkommen. Kommt hinzu: Sie zahlt auf knapp einer Million solcher fiktiver Ersatzeinkommen keine Beiträge. Weil bei nicht verheirateten Personen die Kindererziehung überwiegend von den Müttern geleistet wird, führt diese grosszügige Massnahme dazu, dass die durchschnittliche Altersrente der Frauen heute leicht höher ist als jene der Männer – und das, obwohl die Frauen immer noch leicht weniger verdienen als die Männer. Leider ist dieser «Meccano» selbst vielen Experten nicht im Detail bekannt – auch bei jenen anscheinend nicht, die eine kinderabhängige AHV-Rente fordern. Anders ist es nicht zu erklären, dass die für Eltern höchst positive Wirkung der Erziehungsgutschriften in der angelaufenen Diskussion nicht oder bestenfalls beiläufig in einem Nebensatz erwähnt wird. Dabei müsste eigentlich gelten: Tue Gutes und sprich darüber!

Politisch chancenlos
Was bewegt Menschen dazu, Kinder zu bekommen? Mehr Kindergeld? Höhere Altersrenten? Bessere Betreuung? Martin Bujard (Professor an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg) beantwortet diese Fragen ernüchternd – aber klar: «Familien- und Sozialpolitik können langfristig die Geburtenentwicklung nur sehr stark eingeschränkt beeinflussen. Viel entscheidender ist der kulturelle Kontext.» Oder anders ausgedrückt: Die Menschen bekommen weniger Kinder, weil sie das wollen. Die Geburtenrate lässt sich staatlich nicht steuern.
Ähnlich klar ist auch die politische Reaktion im Schweizer Pressewald ausgefallen – und zwar von politisch links bis rechts. Die SVP kann mit der Idee wenig anfangen. Für die FDP soll der Staat keine Geburtenpolitik machen. Die Mitte bringt Bedenken bezüglich der Praktikabilität an (Stichwort: unfreiwillig kinderlos). Und für die SP ist der Vorschlag schlichtweg «total daneben». Dieses politisch vernichtende Urteil ist denn auch alles andere als ein Steilpass für die Idee. Vielmehr zeigt sich: In der Schweiz ist der Vorschlag einer kinderabhängigen AHV-Rente politisch chancenlos.

 

Fazit: Gesellschaftlich gefährlich und sachlich abwegig
Sozialversicherungen im Allgemeinen und die AHV im Speziellen sind gekennzeichnet von ausgeprägten Solidaritäten auf den verschiedensten Ebenen. Das sind Fakten und hat sich bewährt. So zahlen Gutverdienende für Ärmere (Stichwort: keine Plafonierung der Beiträge), Männer für Frauen (Stichwort: tiefere Lebenserwartung) und Kinderlose für Personen mit Kindern (Stichwort: Kinder- und Waisenrenten). Diese über alle Parteigrenzen hinweg akzeptierten Umverteilungen einseitig aufzubrechen, ist gesellschaftlich gefährlich. Nach der «Bestrafung» der Kinderlosen könnte die Deckelung der beitragspflichtigen Lohnsumme eine nächste Forderung sein. Aber auch aus sachlicher Optik ist das Anliegen klar abwegig. Innerhalb der AHV wird die Kindererziehung mittels Erziehungsgutschriften bei der Rentenberechnung bereits heute äusserst kulant abgegolten (siehe Beispiel). Deshalb im doppelten Sinne: Hände weg von solchen Überlegungen.
 

Beispiel zur Wirkung der Erziehungsgutschriften
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