Schweizer Politik ist auf Paare fixiert – Alleinstehende kommen zu kurz
Bulletin 4/24, Dezember 2024
Aktuell herrscht eine Umbruchstimmung. So viel bewegte sich in Sachen Sozialversicherungen und Steuern gleichzeitig schon lange nicht mehr. Wir stehen an einem Scheideweg. Es könnte eine neue Epoche eingeläutet werden, die dem Individuum gerechter würde. Wenn nur der Gleichstellungskampf zwischen den verschiedenen Paarkonstellationen nicht wäre.
Gut dreiviertel der Personen, die im Bundesparlament politisieren, sind verheiratet, leben im Konkubinat oder in eingetragener Partnerschaft. Im Durchschnitt hat man im Bundeshaus auch mehr Kinder als in der Schweizer Wohnbevölkerung. Wen wundert es also, dass die Schweizer Politik auf Paare und Familien fixiert ist? Sowohl bei den Steuern wie bei den Sozialversicherungen stehen die Bedürfnisse der Paare im Mittelpunkt. Das sind einerseits die Ehepaare generell, die mit den Konkubinatspaaren in einem ständigen Kampf um Privilegien stehen. Andererseits stehen innerhalb der Ehepaare traditionelle (Einverdienerhaushalt) und progressive Modelle (beide Eheleute sind berufstätig) in Konkurrenz. Alle tun so, als würden nur Paare existieren und nur sie Steuern bezahlen.
Kompromisse zugunsten der einen oder anderen Paargruppe betreffen die Alleinstehenden ebenfalls. Sie bezahlen Steuern wie alle anderen, vermutlich sogar noch mehr. Denn sie sind grösstenteils in einem hohen Pensum berufstätig, während in vielen Paarhaushalten eine Hälfte teilzeitlich berufstätig ist oder gar nicht im Erwerbsleben steht. Bei den direkten Bundessteuern sowie in den meisten Kantonen werden Unverheiratete zu einem höheren Tarif zur Kasse gebeten als Verheiratete. Fast die Hälfte der Paare mit Kindern muss keine direkten Bundessteuern bezahlen.
Es gibt wohl zwei wesentliche Gründe, warum die grosse Mehrheit die Augen vor den Diskriminierungen der Alleinstehenden verschliesst:
Tradition um jeden Preis
Zum einen wollen Traditionalisten das Bild der Familie aus den 60er Jahren (und früher) aufrechterhalten. Die Familie wurde ökonomisch mehrheitlich vom Ehemann versorgt. Besonders die Mitte-Partei sowie die SVP wollen mit entsprechenden Gesetzen und Verordnungen bei Sozialversicherungen und Steuern die traditionelle Familie «entlasten», sprich begünstigen. Sie wollen die Versorgerehe auch in Zukunft über alle anderen Familienkonstellationen und Lebensformen stellen. Ging es ursprünglich darum, den Familien finanzielle Engpässe zu ersparen, läuft es heute mehr in eine philosophische Richtung.
Wenn es um die Sicherung veralteter Privilegien – zum Beispiel die Witwenrente – geht, gesellen sich auch die Linksparteien zu den urchigen Traditionalisten. Allmählich öffnet sich aber ein Graben zwischen Einverdiener- und Zweiverdiener-Ehepaaren. Auch letztere plädieren vermehrt für individuelle Lösungen.
Ehepaar versus Konkubinat
Auf der anderen Seite steht der jahrzehntelange Gleichstellungskampf zwischen Ehepaaren und Konkubinatspaaren. Hier mischen praktisch alle Parteien von links-grün bis liberal mit. Im Zentrum steht die Frage: «Was hast du, was ich nicht habe?». Oder anders ausgedrückt «Welche Privilegien der Ehepaare muss man den Konkubinatspaaren zugestehen oder umgekehrt?». Dieser Konkurrenzkampf unter den Paarkonstellationen wirkt sich auf die Situation der Alleinstehenden fatal aus. Diese bedeutende Gruppe existiert in der politischen Diskussion gar nicht. Umso wichtiger ist das Postulat 23.3831 des FDP-Ständerats Andrea Caroni: Er verlangte vom Bundesrat einen Bericht, der beleuchtet, wie der Staat mit Alleinlebenden umgeht, namentlich punkto Steuern, Sozialversicherungen und weiterer Transfers. Der Ständerat doppelte trotz der Ablehnung des Postulats durch den Bundesrat am 13.9.23 nach. Spätestens bis Mitte September 2025 muss der Bundesrat nun einen Bericht vorlegen.
Anhand der folgenden Beispiele wird die Verkettung der Ansprüche von Ehepaaren und Konkubinaten sichtbar:
AHV, 1. Säule
Seit Einführung der AHV 1948 beträgt die maximale Ehepaarrente 150 % der maximalen Einzelrente, unabhängig davon, ob die Ehefrau je berufstätig war oder nicht. Es reicht, wenn nur der Ehemann berufstätig war und AHV-Prämien bezahlte (= Beitragsprivileg). Die 150 Prozent entsprechen den Vorgaben der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die besagt, dass die Kosten für zwei Personen im gleichen Haushalt bei 150 Prozent eines Einpersonenhaushalts liegen.
Als die AHV eingeführt wurde, bestimmte das Zivilgesetzbuch den Ehemann als Oberhaupt der Familie, das für deren Unterhalt zu sorgen hat. Die Ehefrau brauchte für eine Erwerbstätigkeit sogar die Zustimmung des Ehemanns. Das System mit der Ehepaarrente bedeutete somit eine massive Heiratsbelohnung für die damals die Norm darstellende Einverdienerehe, denn der Ehemann konnte mit denselben Beiträgen wie eine alleinstehende Person einen höheren Rentenanspruch erwerben. Dazu kommen mögliche Hinterbliebenenrenten. Aktuell sind Witwenrente wie Ehepaarplafond Gegenstand emotionaler Diskussionen.
Witwenrente
Auch bei der Neugestaltung der Witwenrente macht sich der Verteilkampf zwischen den Paaren bemerkbar.
Die Witwenrente war 1948 bei der Einführung der AHV eine grosse Errungenschaft. Witwen wurden gegenüber Witwern bessergestellt, da eine Berufstätigkeit damals für Frauen viel schwieriger war als für Männer, insbesondere wenn die Ehefrau der damaligen Norm entsprechend bis zum Tod des Ehemanns, sprich meist bis ins fortgeschrittene Alter, nicht erwerbstätig war. Infolge eines Urteils des EGMR (Europäischer Gerichtshofs für Menschenrechte) müssen diese beiden Renten nun in Einklang gebracht werden. Der Bundesrat will nun die Witwen- der Witwerrente anpassen – eine Änderung, die Pro Single Schweiz seit Jahren fordert. Wie die Familienpartei Die Mitte selbst sagt, sind Ehefrauen vermehrt berufstätig. Sie verfügen über gute Ausbildungen und sind deshalb in der Lage, einer Berufstätigkeit nachzugehen, sowohl vor, nach und teilweise auch während der Kinderphase.
Die Witwenrente auf die Jahre der Betreuungspflichten zu begrenzen, wie es der Bundesrat vorschlägt, hat nichts mit Abbau zu tun, sondern folgt den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Dank jahrelanger Gleichstellungsbemühungen sind Frauen heute in der Lage, selbst für sich zu sorgen. Genau das will die Mehrheit der Parteien aber nicht. Sie will am Modell «Ehemann als Versicherung» festhalten. Neu sollen überlebende Konkubinatspartner auch eine Rente für Verwitwete erhalten, wenn sie noch Kinder zu betreuen haben. Obwohl sie streng genommen keine Witwen/Witwer sein können, da diese Begriffe mit der Ehe zu tun haben.
Besonders dreist kommt die Initiative «Ja zu fairen AHV-Renten» der Mitte-Partei daher. Sie fordert die Abschaffung des Ehepaarplafonds, will aber auf keinen Fall das Beitragsprivileg und die Witwenrente inkl. Verwitwetenzuschlag von 20 Prozent, der Verwitweten auf ihre Altersrente dazugerechnet wird, aufgeben. Sollte diese Initiative vom Volk angenommen werden, wäre dies die reinste Gruselgeschichte für Alleinstehende.
Ehepaarplafond
Es kommt noch ein weiterer Begünstigungshandel ins Spiel: Die SVP, die Vertreterin der Frauen-an-den-Herd-Mentalität, würde bei der Anpassung der Witwenrente mitmachen, wenn als «Entschädigung» der Ehepaarplafond angehoben würde, und zwar von 150 auf 175 Prozent. Man stelle sich das einmal vor: zwei Personen generieren ein Einkommen auf der Basis eines 100 Prozent-Pensums und haben dann Anspruch auf 175 Prozent. Eine schöne Weihnachtsgeschichte – aber nicht für Alleinstehende. Sie wären gezwungen, dieses zusätzliche Geschenk kräftig mitzufinanzieren, sei es über Bundes-, Mehrwertsteuern oder Arbeitnehmerbeiträge.
Inzwischen leben Paare auch ohne Trauschein zusammen. Sie erhalten zwei Einzelrenten, können aber nicht vom Beitragsprivileg profitieren. Und hier setzt nun der Verteilungskampf an. Die Mitte fordert die Abschaffung der Plafonierung der Ehepaarrente. Diese sei nicht mehr zeitgemäss, da Ehefrauen vermehrt in den Beruf zurückkehrten. Sie wollen, wie die Konkubinatspaare, zwei Einzelrenten erhalten. Dass Ehepaare in den vergangenen Jahrzehnten (!) grosszügig subventioniert wurden, vergessen sie geflissentlich. Selbst heute besteht bei der AHV immer noch ein Ehepaar-Bonus, wenn man alle Leistungen zusammenzählt. Anstatt den Ehepaaren noch weiter entgegenzukommen, könnte man auch den Alleinstehenden ihren Anteil an der Risikoprämie, den sie zugunsten der Hinterlassenenrenten ebenfalls seit Jahrzehnten leisten, erlassen. Das wäre echte Gleichstellung nach Jahrzehnten der «Zwangssolidarität».
Einen für Alleinstehende akzeptablen Vorschlag hat nun die FDP eingebracht: Das Beitragsprivileg würde gestrichen, ebenso der Verwitwenzuschlag von 20 Prozent. Nur noch Witwen/Witwer mit Betreuungspflichten erhielten eine Witwen-/Witwerrente. Als Gegenleistung würde der Ehepaarplafond längerfristig ebenfalls fallen, d.h. man könnte bei 175 Prozent beginnen und dann allmählich steigern.
BVG (Berufliche Vorsorge, 2. Säule)
Stand bei Inkrafttreten des BVG nur Eheleuten eine Witwen-/Witwerrente zu, wurde im Laufe der Zeit ganz im Sinne der Verteilung unter Paaren die «Witwen»-Rente auch auf Konkubinatspaare ausgedehnt.
Es gibt zwar Pensionskassen, die für Alleinstehende freiwillig Sonderkonditionen vorsehen. Es kann bei ihrem Ableben ein Todesfallkapital ausbezahlt werden. Die Summe entspricht jedoch bei weitem nicht einer langjährigen Witwenrente.
Kaum wurde die BVG-Reform im September 2024 abgelehnt, stand schon die nächste Forderung im Raum: Es sollen, wie bei der AHV, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften eingeführt werden. Diese Forderung war zwar vorauszusehen, sie ist aber jenseits von Gut und Böse. Das BVG ist die berufliche Vorsorge, hängt also direkt mit einer Berufstätigkeit zusammen. Paare und Familien werden heute schon auf dem Buckel der Alleinstehenden privilegiert, indem Eheleute und Konkubinatspaare Hinterlassenenrenten auslösen können, die von den Alleinstehenden mitfinanziert werden. Diese Zwangssolidarität ist umso fragwürdiger, als es sich bei der 2. Säule um ein individuelles Sparen handelt.
Deshalb ist es höchste Zeit, auch den alleinlebenden Unverheirateten ohne Kinder entsprechend einer Witwen-/Witwerrente die Möglichkeit einzuräumen, ebenfalls eine ihnen nahestehende Person im Todesfall zu begünstigen. Zumindest müsste die von Alleinstehenden zu Gunsten der Hinterlassenenrente für Paare zu entrichtende Zwangsprämie abgeschafft oder die Altersrente für jene, die keine anderen Personen begünstigen, entsprechend erhöht werden.
Erbschaftssteuern
Eheleute können einander in allen Kantonen steuerfrei beerben. Um die Paarkonstellationen einander «gleicher» zu stellen, haben einige Kantone die Erbschaftssteuern für Konkubinate ebenfalls abgeschafft: GR (nicht alle Gemeinden), LU, NW, UR und ZG. OW hat die Erbschaftsteuern für alle abgeschafft. SZ kennt gar keine Erbschaftssteuern. Für Nichtverwandte gelten in allen Kantonen (ausser OW und SZ) die höchsten Steuersätze. In GE macht die Erbschaftssteuer bei einer Erbschaft von 500 000 Franken sogar mehr als die Hälfte des Erbes aus. Die Kantone AG, AR, BE, BS und GL verlangen von den Konkubinatspartnern nur 30 – 40 Prozent des Betrages, den Nichtverwandte zu berappen haben. Die Erbschaften von kinderlosen Unverheirateten werden also massiv höher belastet. Für sie scheint das Gleichheitsprinzip nicht zu gelten.
Individualbesteuerung
Am 25. September 2024 stimmte eine knappe Mehrheit des Nationalrats für die Individualbesteuerung und hiess den indirekten Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative der FDP-Frauen gut. Dafür stimmten SP, FDP, Grüne und GLP. Dagegen votierten SVP und Die Mitte. Auslöser für die Initiative war die ungleiche Besteuerung von Ehe- und Konkubinatspaaren. Ehepaare müssen je nach Einkommensaufteilung bei den Bundessteuern mehr Steuern bezahlen als Konkubinatspaare. Die Kantone haben diese Ungleichheit bereits eliminiert oder sogar einen Ehepaarbonus geschaffen.
Pro Single Schweiz hatte sich in der Vernehmlassung ebenfalls für den Gegenvorschlag des Bundesrates ausgesprochen, obwohl er einen Haushaltsabzug für Alleinstehende mit einer fadenscheinigen Begründung ablehnte, auf der anderen Seite aber einen massiv höheren Kinderabzug vorschlug. Ein einheitlicher Steuertarif für alle ist im Sinne der Alleinstehenden, denn bisher gilt für sie ein höherer Steuertarif als für Ehepaare.
Im Fokus der Debatten stehen immer Paarkonstellationen. Deshalb steht bereits der nächste Streit ins Haus. Würden mit der Individualbesteuerung Ehe- und Konkubinatspaare gleichgestellt, ergäbe sich für Einverdiener-Ehepaare gegenüber Zweiverdiener-Ehepaaren mit eher gleichmässiger Einkommensaufteilung ein Nachteil zum Status quo. Traditionelle Ehepaare mit einer ungleichmässigen Einkommensaufteilung, also Ehepaare mit keinem oder niedrigem Zweiteinkommen, zahlen heute weniger Steuern als Konkubinatspaare in vergleichbaren Einkommensverhältnissen. Konservative Parteien wie Die Mitte und die SVP sehen die althergebrachten Privilegien der traditionellen Ehe davonschwimmen und sträuben sich vehement gegen die Individualisierung.
IPV Individuelle Prämienverbilligung
Jeder Kanton entscheidet individuell, wen er wie stark entlasten möchte. Die Kriterien sind sehr unterschiedlich. In Zürich (Region 1) zum Beispiel hat eine Einzelperson ohne unterhaltsberechtigte Kinder Anspruch auf Prämienverbilligung, wenn ihr Einkommen 72 230 Franken unterschreitet und ihr Vermögen nicht höher als 150 000 Franken ist. Bei Ehepaaren gelten beim Einkommen 115 950 Franken, das Vermögen darf aber bis 300 000 Franken betragen, um immer noch in den Genuss einer Prämienverbilligung zu gelangen. Obwohl gemäss OECD die Kosten für zwei Personen im gleichen Haushalt 150 Prozent eines Einpersonenhaushalts ausmachen, gewähren viele Kantone den Ehepaaren pro Person höhere Einkommens- und Vermögensgrenzen als Einzelpersonen. Hier drückt die Privilegierung der Ehe einmal mehr durch, wenn das anrechenbare Vermögen eines Ehepaares doppelt so hoch sein darf wie dasjenige einer Einzelperson.
Fazit
Das Ringen um Gleichheit zwischen den einzelnen Paarkonstellationen nimmt in der Politik viel Platz ein. Es ist fraglich, ob die Angleichung der einzelnen Privilegien wirklich mit Gleichheit zu tun hat. Müsste man nicht eher alle Vorteile für Paare der Situation der Alleinstehenden angleichen? Das hiesse gleicher Steuertarif für alle, Anspruchsberechtigungen bei den Hinterlassenenrenten entweder streichen oder für Alleinstehende ein Todesfallkapital mit Begünstigungsmöglichkeit einzuführen. Als Kompensation für wegfallende Leistungen wäre ein Ausbau der Ergänzungsleistungen denkbar, damit niemand in Armut leben muss. Für viele klingt das leider zu utopisch.
Was aber machbar ist und endlich berücksichtigt werden muss: Alle Entscheide bei Steuern und Sozialversicherungen sollen unter Einbezug der Situation der Alleinstehenden getroffen werden.
zurück