Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit: Was bedeutet das?
Bulletin 3/24, September 2024, Daniel Billeter
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist ein im steuerlichen Kontext oft verwendeter Begriff, der einerseits nicht klar definiert ist und andererseits in der Praxis oft zum Vorteil von Familien mit Kindern und Paaren mit gemeinsamem Haushalt und damit zum Nachteil der Alleinstehenden interpretiert und angewendet wird. Zwei Beispiele sollen diese Benachteiligung der Einpersonenhaushalte illustrieren.
Art. 127 der Bundesverfassung legt die Grundsätze der Besteuerung fest. In Abs. 2 wird festgehalten: Soweit es die Art der Steuer zulässt, sind dabei insbesondere die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichmässigkeit der Besteuerung sowie der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beachten. Was unter der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu verstehen ist, wird nicht weiter spezifiziert. Klar ist jedoch, dass die finanziellen Verhältnisse zu beachten sind, was eine reine Kopfsteuer, die für alle den gleichen Steuerbetrag bedeutet, ausschliesst. Das Bundesgericht hat im Weiteren entschieden, dass degressive kantonale Einkommenssteuern unzulässig sind, das heisst Steuersysteme, bei denen der Gesamtsteuersatz mit zunehmendem Einkommen sinkt, wobei auch sinkende Gesamtsteuersätze in Teilbereichen der Einkommensskala unzulässig sind.
Unterschiedliche Wertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
Bei der Besteuerung wird allerdings nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf Basis der zur Verfügung stehenden Mittel berücksichtigt, sondern auch, wie diese eingesetzt werden. Wer Kinder hat, profitiert von einem Kinderabzug und zahlt weniger Steuern als jemand, der die gleichen finanziellen Mittel für andere persönliche Präferenzen einsetzt. Sowohl eine Familie mit Kindern als auch andere Lebensweisen sind frei wählbar, in keinem Fall besteht eine Pflicht dazu. Wer sein Geld für Kinder verwendet, ist wirtschaftlich nicht weniger leistungsfähig, er macht von seiner Leistungsfähigkeit lediglich in einer anderen Art und Weise Gebrauch. Die Besteuerung hängt ganz wesentlich davon ab, wofür die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eingesetzt wird. Benachteiligt werden, wie so oft, kinderlose Alleinstehende, deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch höhere Steuern geschmälert wird.
Tiefere Arbeitspensen begünstigen höhere Subventionen
Weiter stellt sich die Frage, ob die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht im Sinne eines wirtschaftlichen Leistungspotenzials gesehen werden sollte. Wer freiwillig nur in einem 80 %-Pensum statt 100 % arbeitet, hätte die Fähigkeit voll zu arbeiten, macht aber von seinem Potenzial nicht voll Gebrauch. In einem progressiven Steuersystem vermindert sich dabei der Steuerbetrag nicht etwa auch auf 80 % des Betrags bei einem Vollzeitpensum, sondern deutlich stärker, beispielsweise auf 60 %, da die höheren Einkommensanteile progressionsbedingt höher belastet werden. De facto bedeutet dies eine staatliche Subvention der Teilzeitarbeit, was nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Besteuerung gemäss wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit im Sinne des Leistungspotenzials verfehlt ist, sondern auch angesichts des Fachkräftemangels. Auffallend oft sind mittlerweile auch Sätze zu hören wie «es lohnt sich nicht, mehr zu arbeiten», weil man diese oder jene Vergünstigung verlieren würde. Die Gewährung von Subventionen aufgrund des erzielten steuerbaren Einkommens ohne Berücksichtigung des Leistungspotenzials setzt zu viele Fehlanreize: Durch eine Pensenreduktion können in gewissen Fällen zusätzliche staatliche Subventionen wie höhere Kitavergünstigungen oder Prämienverbilligungen ausgelöst werden. Profitieren können von dieser mehrfachen Subvention der Teilzeitarbeit überwiegend Paare, die es sich dank der finanziellen Vorteile eines Paarhaushalts leisten können, ihren Beschäftigungsgrad zu reduzieren, während Einpersonenhaushalte öfter auf den ganzen Verdienst angewiesen sind.
Die Möglichkeit zum freiwilligen Verzicht auf Einkommen durch Teilzeitarbeit ist auch ein Wohlstandsphänomen. Die Bemessung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach traditioneller Auslegung droht diesen Wohlstand zu gefährden. Sie setzt falsche Anreize und unterläuft das Ziel einer höheren Erwerbsbeteiligung von Zweitverdienenden und Teilzeitarbeitenden.
Unsere Sozialsysteme wurden zu Zeiten konzipiert, als die Ausschöpfung des eigenen Leistungspotenzials die Regel war. Wenn sich eine steigende Zahl Erwerbstätiger eine Pensenreduktion zugunsten anderer Interessen gönnen will und ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gezielt vermindert, soll sie das tun dürfen, wenn sie bereit ist, nach ihren eigenen finanziellen Möglichkeiten zu leben, ohne das Sozialsystem durch Zuschüsse zu belasten, welche bei Ausschöpfung des Leistungspotenzials nicht anfallen würden. In manchen Fällen können reduzierte Pensen später gar noch Ergänzungsleistungen zur tieferen Rente zur Folge haben.
Wenn sich Leistung nicht mehr lohnt und jemandem, der 100 % arbeitet, unter dem Strich nicht mehr bleibt als einem gezielten Optimierer, wird die Leistungsbereitschaft generell sinken. Es wäre deshalb wichtig, die bestehenden Fehlanreize durch eine modifizierte Auslegung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu korrigieren.
Fazit
Würde für die Berechnung des Steuersatzes der Einkommenssteuer, der Kita-Vergünstigungen und der Krankenkassenprämienverbilligungen das auf ein 100 %- Pensum hochgerechnete Einkommen verwendet, wäre der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Sinne des Leistungspotenzials besser Rechnung getragen.